Neue Aufgabe für Pfarrer Pleines

Geldern. Hartmut Pleines (56) wechselt aus dem Gefängnis Geldern-Pont in eine neue Stelle: In der JVA war er seit 2014 als evangelischer Seelsorger für Inhaftierte, Mitarbeitende und für Angehörige von Mitarbeitenden und Inhaftierten tätig. Seit dem 1. September arbeitet er als Krankenhausseelsorger am Alexianer-/Maria-Hilf-Krankenhaus in Krefeld. Dazu befragte ihn Stefan Schmelting.

Herr Pleines, zunächst mal Glückwunsch zur neuen Stelle, wie kam es dazu?

Als ich in die Gefängnisseelsorge wechselte, waren Pfarrstellen dort auf 8 Jahre befristet. Das fand ich gut, weil es mir die Chance bot, für die letzten 10 Dienstjahre noch einmal etwas anderes zu machen. Diese Befristung ist vor einigen Jahren aufgehoben worden. Aber es fiel mir von Tag zu Tag schwerer, im System Vollzug – jedes Gefängnis ist eine Landesbehörde – mitzuwirken. Ich habe leider bemerkt, dass für Politik und Gesellschaft das „sichere“ Wegschließen von Menschen und die Bestrafung einen immer höheren Stellenwert bekommen. Der Sinn einer Strafhaft liegt für mich – neben der Bestrafung – aber vor allem darin, Menschen für ein „normales“ Leben, frei von Straftaten, zu befähigen. Dafür braucht es einen individuellen Behandlungsvollzug statt „Wegschließen“. Ich werde hoffentlich die Situation Inhaftierter nie mehr aus den Augen verlieren. Aber ich möchte nicht mehr im „System“ Gefängnis arbeiten.

Welche Themen sind Ihnen im Gefängnis als Seelsorger verstärkt begegnet, im Gegensatz zu Ihrer vorherigen Tätigkeit als Gemeindepfarrer in Kerken? Beispielsweise „Sehnsucht“, die in großen Lettern an der Mauer hängt?

Es sind mir im Gefängnis gar nicht wirklich andere Themen begegnet als in der Gemeinde. Aber die Intensität, mit der ich Seelsorger sein konnte, die ist völlig anders: Ich schätze, dass ich 75% bis 80% meiner Dienstzeit mit seelsorglichen Einzelgesprächen füllen konnte – davon habe ich als Gemeindepfarrer nicht einmal zu träumen gewagt. Inhaftierte Menschen und Bedienstete der JVA haben genau dieselben Krisen zu bewältigen wie Menschen, die mit Vollzug keine Berührungspunkte haben: Beziehungsprobleme, Erziehungsfragen und die Fürsorge für Eltern und Großeltern, Trauerfälle und schwere Krankheit – alles das ist mir draußen und drinnen gleichermaßen begegnet. Dazu kommen spezifische Problemlagen, die sich daraus ergeben, dass geschlossen inhaftierte Menschen nur sehr eingeschränkt mit ihren nicht inhaftierten Angehörigen und Freunden kommunizieren können: WhatsApp geht gar nicht, Gefangene bekommen nur beschränkt Zeit zum Telefonieren, zudem müssen Telefonate vom Personal überwacht werden. Die früher sehr großzügigen Besuchsregelungen in der Gelderner JVA sind aufgrund der Corona-Hygieneschutzbestimmungen über Monate auf „Null“ zurückgefahren worden und immer noch arg beschränkt. „Sehnsucht“ haben Gefangene in der Tat nach so etwas ganz Normalem wie „jemandem in Ruhe telefonisch zum Geburtstag zu gratulieren“.

Auch das Krankenhaus ist ein Ort, wo Menschen nicht so gerne sind, oder den sie möglichst schnell verlassen wollen. In der Bibel nimmt „Flucht“ eine zentrale Rolle ein. Sei es, weil Menschen vertrieben werden oder wegen klimatischer Veränderungen einen neuen Ort suchen. Welche Rolle spielt die Bibel für einen Gefängnisseelsorger und seine Gemeinde?

Das hängt sehr davon ab, welchen Stellenwert die Bibel individuell für den Seelsorger hat. Ich bin als Gemeindepfarrer nie aus dem Haus gegangen, ohne mein „Handwerkszeug“ dabei zu haben: Gesangbuch und Bibel – bei mir in dieser Reihenfolge. Im Gefängnis war mir wichtig, als Christ, als evangelischer Pfarrer in calvinistischer Tradition erkennbar zu sein – darum habe ich die Bibel gern und viel ins Gespräch gebracht. Sie ist meine Glaubens- und Lebensbasis. Sie ist mein Handwerkszeug als Pfarrer – ich fühle mich nackig, wenn ich keine Bibel griffbereit habe. Interessanterweise sind es gerade muslimische Gefangene, die den ausdrücklichen Bezug auf biblische Grundlagen meiner Argumentation häufig eingefordert haben.

Gab es in der JVA auch so etwas wie eine Kerngemeinde von Menschen, die regelmäßig und aus Überzeugung in die Gottesdienste gingen?

Ja, durchaus. Von gar nicht wenigen Gefangenen ist gottesdienstliche Ruhe wertgeschätzt, andere möchten im bzw. nach dem Gottesdienst Mitgefangene treffen und sprechen. Die Gelderner JVA hat eine Gottesdienstkultur (vor Corona) gehabt, in der viele externe Gruppen zwei bis viermal jährlich Gottesdienste mit Bands und Chören gestalteten – auch das hat viele Gefangene angesprochen. Etliche Bands und Chöre haben ihren eigenen Fanclub.

Was war Ihnen in der Begegnung und Seelsorge mit Gefangenen wichtig?

Ein echtes, ehrliches Gegenüber zu sein und bewusst auf Augenhöhe miteinander umzugehen: Der Unterschied zwischen Gefangenen und mir ist ja nicht, dass ich keine Fehler mache.

Wie unterscheidet sich Seelsorge in der JVA von der in einer Gemeinde?

Wie schon gesagt: Ein JVA-Pfarrer hat dafür Zeit. In einem Männergefängnis wie in Geldern ist sicher der Unterschied, Gespräche fast nur mit Männern zu führen – in der Gemeinde waren es fast nur Frauen. Und auch die Gefangenen haben Zeit für solche Gespräche – zu viel Abwechslung oder Zerstreuung gibt es in der JVA nicht.

Waren Sprachen und Nationalitäten ein Hindernis oder eine Bereicherung?

Ich habe Sprachen und Nationalitäten und Religionen vornehmlich als Bereicherung erlebt. Weil die Gelderner JVA einen Ausbildungsschwerpunkt hat und keine Untersuchungshäftlinge – in keinem anderen Gefängnis in Nordrhein-Westfalen können so viele unterschiedliche Berufe erlernt werden – gibt es allerdings hier nur wenige Gefangene, die gar kein Deutsch sprechen. Hinderlich waren manchmal meine dürftigen Fremdsprachenkenntnisse dennoch.

Wie wichtig und wie fruchtbar ist es, das Gebot der Nächstenliebe Menschen zu predigen, die leichte bis schwere Verbrechen begangen haben?

Das Predigen dieses Gebotes ist weniger wichtig gegenüber Straftätern als das Erleben: Wann immer mir gelingt, Straftäter nicht auf ihre Straftaten zu reduzieren oder gar als „Monster“ zu behandeln, sondern sie erleben, fühlen zu lassen, dass sie selbst Gottes geliebte Geschöpfe sind - schon einzig und hoffentlich auch zunehmend artig - kann ich das Predigen reduzieren.

Was macht eine Gefängnisstrafe mit Menschen und ihren Angehörigen?

Sie kann leider Menschen kaputt machen - das habe ich mehrfach miterlebt. Vor allem nach langen Haftstrafen ohne die Möglichkeit auf Freigang haben viele Entlassene weder Freunde noch Angehörige – oder sie kennen einander nicht mehr. Geschlossene Strafhaft von Straftätern straft Angehörige und Freunde, straft insbesondere Kinder, in einer – wie ich finde – mit dem Grundgesetz nur schwer zu vereinbarenden Weise.

Sind (lange) Gefängnisstrafen das richtige Instrument, um Taten zu sühnen und künftige Taten zu verhindern?

Statistisch ist mehrfach und immer wieder nachgewiesen: Je länger Haft dauert, desto größer sind die Schäden. Wem ich sein soziales Umfeld zerstöre, dem erschwere ich die Wiedereingliederung nach der Haft. Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Es ist sicher erforderlich, Gefängnisse vorzuhalten und Menschen durch Entzug der Freiheit unter Zwang daran zu hindern, anderen und sich selbst zu schaden. Aber nach meiner Erfahrung gibt es nur sehr, sehr wenige Menschen, die für immer uneinsichtig und gefährlich bleiben. Ich finde, viel mehr Straftäter als aktuell sollten die Chance bekommen, ihre Taten in einem „normalen“ Leben zu sühnen. Wenn ich Betrüger befähige, auf ehrliche Art und Weise Geld zu verdienen und dadurch wenigstens finanziell von ihnen angerichteten Schaden zu bezahlen, hat das mehr mit Sühne zu tun, als langes Wegsperren.

Für welche Eindrücke und Begegnungen in der JVA sind Sie dankbar?

Für das Vertrauen, dass mir Menschen entgegengebracht haben. Dafür, dass sie mich auf ihre Entdeckungsreisen in die eigenen Lebensgeschichten mitgenommen haben. Auch dafür, dass sie großzügig mit meinen Grenzen und Schwächen waren und viel und gerne mit mir gelacht haben.

Wenn sie zurückblicken, was würden Sie dem Theologiestudenten Hartmut Pleines raten, mit heutigem Wissen?

Puh! Um Seelsorger, um Pfarrer werden zu können, brauchst du viel Leben und viel Nähe zu Menschen, gerne zu „normalen“, die wohl sogar an Universitäten zu finden sind.

Sie verlassen durch die neue Arbeitsstelle nicht nur das Gefängnis…

Das ist richtig, mit der neuen Stelle wechsele ich auch in den Kirchenkreis Krefeld-Viersen. Das bedeutet, dass ich einem neuen Kirchenkreis und einem neuen Pfarrkonvent angehöre und natürlich die Berufung als Klever Abgeordneter zur Landesynode nicht mehr wahrnehmen kann. Ich bleibe jedoch mit meiner Familie in Geldern wohnen und auch den Vorstandsvorsitz des Diakonie im Kirchenkreis Kleve e.V. werde ich noch einige Zeit behalten – bis sich eine Nachfolgerin, ein Nachfolger findet, bzw. bis meine „Amtszeit“ als Vorstandsmitglied endet.

Vielen Dank und einen gesegneten Weg!

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