Von Gott verlassen?
Zur Karwoche ein Beitrag des Diakonie-Geschäftsführers Pfarrer Joachim Wolff:
Christen reflektieren in der Karwoche das Leiden und Sterben von Jesus Christus. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“, ruft Jesus am Kreuz bevor er stirbt. Diese Gottverlassenheit spüren die Menschen in der Ukraine genauso, wie Menschen sie in Syrien, Afghanistan oder sonst wo auf der Welt spüren, wenn Krieg und Terror ihr Leben bedroht, sie leiden oder gar sterben.
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bleibst fern meiner Rettung, den Worten meines Schreiens? Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; und bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe.“ So ruft der Beter des 22. Psalms Gott an. So empfindet Jesus selber, Gottes Sohn am Kreuz.
Waren es zu Jesus Zeiten die religiösen Funktionäre in Jerusalem, die seinen Tod aus Angst vor dem römischen Militärregime in Kauf nahmen, so ist es heute Kyrill der I., der Patriarch von Moskau und Groß-Russland, der zu einem liebedienerischen Anhängsel des diktatorischen Putin-Systems verkommen ist und den blutigen Angriffskrieg seines Förderers und Kirchenmitgliedes Wladimir Putin rechtfertigt. Was für ein himmelschreiender Skandal – damals und heute!
Die Bilder der Kriegsopfer sind kaum zu ertragen. Die Erlebnisse der Geflüchteten aus der Ukraine und aus anderen Kriegsgebieten der Welt sind nur schwer zu verarbeiten. Kriege hinterlassen Wunden, tiefgreifende Traumata, die bei vielen älteren Menschen, die den zweiten Weltkrieg miterleben mussten, in diesen Tagen wieder aufbrechen. Ein harmloses an die Stirn gehaltenes Fieberthermometer löst Panik aus, weil es mit einer Waffe assoziiert wird. Erinnerungen an Nächte in Bunkern führen zu Alpträumen.
Das Gefühl der Gottverlassenheit auszuhalten, ist die größte Herausforderung in der Karwoche. In dieser Woche stehen nicht nur der gekreuzigte Sohn Gottes im Mittelpunkt, sondern alle Menschen, die in diesem so unerträglichen Angriffskrieg leiden und ihr Leben lassen. Mit ihnen solidarisch zu sein, lehrt uns das Kreuz Christi. Ihr seid nicht allein – wir stehen an eurer Seite.
Psalm 22, den Jesus am Kreuz betet, bietet jenseits aller Gottverlassenheit eine nachdenkens-werte Perspektive:
„Unsere Väter setzten ihr Vertrauen auf dich. Sie vertrauten dir und du hast sie gerettet. Zu dir schrien sie um Hilfe und wurden befreit, sie vertrauten auf dich und wurden nicht enttäuscht.“
Es bleibt die große Hoffnung, dass Gott rettet und befreit. Dem Gefühl, von Gott enttäuscht und verlassen worden zu sein, folgt ein großes Gottvertrauen, das am Ende des Psalms 22 zu einer großen politischen Friedensvision wird:
„An allen Enden der Erde wird man zur Einsicht kommen, und die Menschen werden zum HERRN umkehren. Alle Völker werden zum HERRN umkehren. Alle Völker werden sich vor dir, HERR, niederwerfen und dich anbeten. Denn dem HERRN gehört das Königtum, er herrscht über alle Völker. Die Großen der Erde werden ein Festmahl halten und sich anbetend vor dem HERRN niederwerfen.“
Die Kernbotschaft des christlichen Glaubens ist, dass Leiden und Tod, Folter und Kreuz nicht das letzte Wort haben. Stattdessen gibt es eine Aussicht für das Leben, eine Chance auf Frieden, und eine Ordnung für ein gerechtes Zusammenleben der Völker. So darf dann auch in Kriegszeiten Ostern gefeiert werden, der Aufstand für das Leben.